Goethe zitiert man – mit dem Lichtenberg arbeitet und lebt man!

Piero Masztalerz, Verpeilt I. (Staffelei), 2014,  Privatbesitz

Piero Masztalerz, Verpeilt I. (Staffelei), 2014, Privatbesitz

Wir haben eine neue Ausstellung! Lichtenberg reloaded! Eine Hommage an den Göttinger Physiker und Aphoristiker Georg Christoph Lichtenberg. Am Samstag, 7. März 2015 wurde sie eröffnet und der Ausstellungskurator, WP Fahrenberg aus Göttingen, hat eine flammende Rede gehalten, die unbedingt auf diesem Blog konserviert werden muss für alle, die einen perfekten Einstieg in die lichtenbergsche Welt brauchen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

uns erreichte heute eine sehr betrübliche Nachricht.

Georg Christoph Lichtenberg, der großartige Experimentalphysiker, der wundervolle Aphoristiker und Vordenker der Aufklärung – der Mann, dem wir diese Ausstellung gewidmet haben –

Georg Christoph Lichtenberg ist tot.

Horst Janssen, Porträt Georg Christoph Lichtenberg, 1987, Privatbesitz

Horst Janssen, Porträt Georg Christoph Lichtenberg, 1987, Privatbesitz

Wie seine Familie mitteilte, starb er bereits am 24. Februar im Alter von 57 Jahren. Das erschüttert uns alle – Künstler, Leihgeber, Vermittler – gleichermaßen – wie wohl jeden, der sich in den letzten Monaten, Jahren, Jahrzehnten gar, mit dem Göttinger Gnom beschäftigt hat. Auch wenn in den Geschichtsbüchern nachzulesen ist, dass Lichtenbergs Todesjahr bereits 1799 war – wir konnten und wollten das nicht glauben, hielten es für einen banalen Tippfehler – so frisch und unverbraucht, so aktuell und erhellend ist ALLES, was er uns hinterlassen hat.

Und nun soll er plötzlich tot sein? UNFUG !!!

Wie kann denn einer sterben, wenn er als 17. Kind einer hessischen Pfarrersfamilie geboren wurde, schon bei der Geburt behaftet mit schwerem Leiden und Deformationen (die späterhin berühmt gewordenen Buckel, die Kurzatmigkeit und vieles andere), dazu aufgrund seiner Körperkleine eben mal den Blick knapp über die Tischkante hatte – dessen Blick sich aber im Laufe der überstandenen Jahre zu einem der weitsichtigsten und schärfsten seine Zeit entwickelte?

Wie kann einer sterben, dem das Plus-Minus-Zeichen in der Physik zu verdanken ist, der moderne Fotokopierer und die Seebäder? Der vor allem aber zwar kein Opus wie einen FAUST geschrieben hat, aber tausende von ungemein klarsichtigen, weisen und oft prophetischen, dabei wundervoll witzigen Notaten und Aphorismen hinterlassen hat, die bis heute beim Lesen und Wiederlesen unweigerlich süchtig machen ?

Lichtenberg-Figur auf dem Göttinger Marktplatz

Lichtenberg-Figur auf dem Göttinger Marktplatz

Schon seine Zeitgenossen schätzten ihn über die Maßen dafür, die Großen seiner Welt besuchten den kleinen Mann in Göttingen, um ihm manierlich Aufwartung zu machen – und wie viele später geborene Philosophen und Literaten sangen ihm hohe Loblieder ? Wie wahr ist doch jener schöne Satz: den Goethe zitiert man – mit dem Lichtenberg arbeitet und lebt man …

Rainer Ehrt, Lichtenberg und Goethe, 2013, Privatbesitz

Rainer Ehrt, Lichtenberg und Goethe, 2013, Privatbesitz

Und dann passierte vor über 50 Jahren noch etwas, dass seine Wirkung und Bedeutung in neue Ebenen katapultierte … Ein Hamburger Künstler namens Horst Janssen entdeckte den Menschen und das Werk LICHTENBERG für sich, begann mit und über ihn zu zeichnen und setzte das bis zu seinem eigenen Tod fort. Janssens Freund und Verleger Tete Böttger aus Göttingen kümmerte sich darum, dass diese phänomenalen Adaptionen gesichert und bewahrt wurden, und sorgte dafür, dass sie weltweit in faszinierenden Ausstellungen zu sehen waren. Bilder waren dies, in denen sich die Persönlichkeit und das Leben Janssens immer mehr und intensiver mit der Persönlichkeit und dem Leben Lichtenbergs vermischten, und die zunehmend auch den Blick anderer Künstler auf das Vorbild in der Vergangenheit zogen.

1992 entstand so die Idee, bildnerische Umsetzungen der Aphorismen zu sammeln und zu bündeln; wir, die wir uns diese Aufgabe gestellt hatten, waren zunächst noch sehr unsicher, ob wir den Sturm zwischen den Jahrhunderten in Gang würden halten können – aber da hatten wir die Wirkung Lichtenbergs klar unterschätzt, denn zur Ausstellung LICHTENBERG CONNECTION fanden sich alsbald mehr als 60 Künstler zur Huldigung zusammen, darunter Schwergewichte wie Hans Traxler, F. W. Bernstein, Rudi Hurzlmeier, Walter Hanel, Loriot und Tomi Ungerer. (Eine handvoll der damaligen Arbeiten haben wir für diese Ausstellung reloaded.) Zwei von den alten Mitstreitern ließ der Lichtenberg, den sie sich zugezogen hatten, gleich gar nicht mehr los: Robert Gernhardt dachte Lichtenberg auf seine ganz spezielle Weise weiter und neu – ein Zyklus von 99 Arbeiten entstand. Und Rainer Ehrt versenkte sich tief in die Zeit und die Lebensdetails des Gnoms, seine Beschäftigung damit hält bis heute unvermindert an.
DSCN3209Und so fand sich für uns vermittelnde Fans und Verehrer gleich die nächste ausstellerische Aufgabe – nämlich erstmals Auszüge aus den drei berühmten Zyklen zu vereinen und gegen – bzw. miteinander zu stellen … Was nun heute dank der großartigen Zusammenarbeit mit dem Museum Wilhelm Busch gelungen ist !

Da lag es nahe, wiederum andere Künstler ebenfalls nach ihrem Zugang zu Lichtenberg zu fragen – und, was Wunder, eine neue Generation von Adepten ließ sich mit größter Begeisterung und immensem Fleiß darauf ein, und nutzte vielfältigste Stilistiken und Darstellungsformen – von der scherzorientierten Handzeichnung über computergenerierte, wiewohl meisterliche Drucke bis zu großformatigen Öl- und Acryl-Gemälden und Fotoinstallationen wie der von Dagmar Detlefsen, die die Kunst der Zeichen nicht nur durch Zeichnung transportieren …

Wie oft habe ich in den vergangenen Monaten und Jahren angesichts neuester künstlerischer Ergebnisse den Künstler danken wollen ? Fast immer winkten die Künstler ab: der Dank und das Vergnügen seien doch ganz auf ihrer Seite, haben sie doch dabei den Lichtenberg für sich entdecken dürfen … Dennoch von mir und von uns nochmals eine tiefe Verbeugung vor all denen, die bei diesem Projekt ihr Herzblut beigesteuert haben, die Lichtenbergs Lebendigkeit spürten, und ihn so mit Freude am Leben erhalten haben. Nicht alle dieser Freunde im Lichtenbergschen Geiste kann ich hier erwähnen, dazu ist einfach wieder zu viel an köstlichem Material zusammengekommen. Aber ich darf wahllos auf einige besondere Highlights hinweisen…. So etwa auf Frank Hoppmann und Jakob Kirchmayr, herausragende Vertreter einer neuen Zeichnergarde, die scheinbar Altbekanntem durch expressive Herangehensweise völlig neue Facetten haben abgewinnen können. Der Deutschamerikanerin Susannah Martin, die in verblüffender Weise klugen, leisen Humor mit altmeisterlicher Technik verbindet.

Installation von Frank Kunert

Installation von Frank Kunert

Dem Modellbauer und Fotografen Frank Kunert, der uns noch nie dagewesene Einblicke sogar in das Grab Lichtenbergs vermittelt. Der Hamburger Graphikerin Marion Vina, die sich den Lichtenberg so zu Herzen genommen hat, dass sie ihm bislang fast 200 Arbeiten gewidmet hat – und ein Ende ist noch lange nicht abzusehen. Jub Mönster und Til Mette, die ihre Bildsprache in überaus spannender Weise erweiterten, um dem Lichtenberg gerecht zu werden.

Peter Tuma, Der Spaziergang, 2014, Privatbesitz

Peter Tuma, Der Spaziergang, 2014, Privatbesitz

Den Altmeistern Peter Tuma und Gerhard Glück, die sich von der Hingabe der jüngeren Kollegen zu eigenen Höhenflügen inspirieren liessen. Frischestes Blut tost in den Adern und Werken von Malern und Zeichnern wie POLO, Ari Plikat, Ulrike Martens, Siegfried Böttcher, Oliver Ottitsch, Michael Holtschulte, Dorthe Landschulz, Ludwig Berndl und ihren Kollegen …

Und unbedingt sei hier auch nochmal das grandiose Physiker-Ehepaar Johanna und Wolfgang Send erwähnt, die uns zum Teil eigens aufwendigst nachgebaute physikalische Apparaturen aus dem Experimentierzimmer Lichtenbergs zur Verfügung stellten. Und last but not least Gert Schwab vom Göttinger Verlag der Kunst, der die künstlerischen Erzeugnisse in einem hinreißenden Katalogbuch bündelte und sich dabei einbrachte, als wenn er selbst jedes einzelne Werk geschaffen hätte.

Sie alle zusammen stehen für die Wirkung der anhaltenden Magie Lichtenbergs, für diese Ausstellung, und für die Erkenntnis : LICHTENBERG LEBT !!!

Ich darf Ihnen, liebe Betrachter, viel Vergnügen wünschen beim Eintauchen in die besondere, komplexe, federleichte, ernstkomische, lichtenbergische Welt dieser Ausstellung – und möchte Sie gleichzeitig dazu aufrufen, vielleicht gleich heute Abend mal wieder eins der verstaubten Sudelbücher aus Ihrer Bibliothek zu ziehen, und den Lichtenberg im Original zu lesen. Sie werden feststellen : Er fasst an. Er entfacht. Er wirkt. Er verändert. Er bleibt ! Er lebt !!!!

Vergessen wir alle niemals den Schlachtruf der Aufklärung, der von Kant stammt, aber von Lichtenberg gedacht scheint :

Sapere aude !
Wage es, weise zu sein !!!!
Ulrike Martens: Sapere aude!Ich danke Ihnen .

WP Fahrenberg

WP Fahrenberg mit Elektrisiermaschine

WP Fahrenberg mit Elektrisiermaschine

Die Ausstellung “Lichtenberg reloaded! Eine Hommage” läuft bis zum 25. Mai 2015 im Museum Wilhelm Busch – Deutsches Museum für Karikatur und Zeichenkunst.