Antwort zur Frage 8


Frage 8. Ihr Ansatz über das Vektorpotential für den Auftrieb ist theoretisch nachvollziehbar, aber Sie machen ja einen weiten Bogen. Wieso nehmen Sie nicht das skalare Potential für die inkompressible Strömung, wie es in allen Lehrbüchern steht: v = -grad phi? Damit erhalte ich doch exakte Lösungen für das, was Sie (mit einem schönen Namen) als das "Umströmungsproblem" bezeichnen.
Gestatten Sie eine grundsätzliche Entgegung. Der letzte Teil Ihrer Bemerkung ist nach meiner Auffassung nicht richtig. Die Lösungen mit dem Ansatz v = -grad phi sind nicht exakt, obwohl viele Lehrbücher dies behaupten.  Man merkt es nur nicht mehr. Allein im stationären 2D Fall ist dies vielleicht nicht sofort augenfällig, weil dort im klassischen Grenzfall des idealen Fluids nur die Abflussbedingung erfüllt werden muss. Physikalisch gesprochen: Die Wirbelschichten von Ober- und Unterseite "löschen" sich aus, weil sie entgegengesetzte Vorzeichen haben. Dann brauche ich auch keinen Nachlauf mehr. Von diesem Grenzfall kommt man aber nicht zurück zu 3D Lösungen, nicht einmal zum schwingenden 2D Profil.

 Schon vom schwingenden 2D Profil mit wechselnder Anströmung und folglich wechselndem Auftrieb fließen ständig Wirbel ab (y-Komponente der flächenhaften Wirbeldichte getreu Prandtl). Auf welcher Fläche bleiben sie denn zurück? Mit dem Ansatz v = -grad phi und der üblichen Sprungrelation auf einem ebenen Nachlauf haben Sie doch schon der erste Approximation gemacht! Diese Annahme über den Ort der Wirbel im Nachlauf wird bei den sogenannten exakten potentialtheoretischen Verfahren (Singularitäten-Verfahren) auch weiter gar nicht motiviert, sondern ist ein deus ex machina. Sie können  ja auch nicht irgendein Potential nehmen (Monopol, Dipol, Quadrupol etc.). Warum klappt es nur mit dem Dipolpotential? Das Thema wird rein mathematisch abgehandelt. Auch der 3D Fall hat nur ein "Brett" als Nachlauffläche. Wo bleibt die Begründung und Lösungsmöglichkeit für die Verformung der Nachlauffläche? Zugegeben: Für die Druckberechnung zu instationären Lösungen muss auch ich auf das Ampèresche Theorem zurückgreifen*). Aber diese Möglichkeit im Fall der flächenhaften Wirbeldichte unterstreicht doch gerade, welche eminente Bedeutung der Grenzfall der infinitesimal dünnen Grenzschicht für die Aerodynamik hat. Keinesfalls sind die Lösungen exakt und erfüllen die Erhaltungssätze! Man kann die Abweichungen sogar gut physikalisch diskutieren - mit meinem Ansatz. In diesem physikalisch begründbaren Abstieg  auf die Ebene der klassischen  Lösungen von dj/dt=0 sehe ich den größten Vorzug neben der Tatsache, dass die Beobachtungen der Wirbeldichte mit modernen Analysemethoden wie Particle Image Velocimetry (PIV) eine bruchlose Interpretation und theoretische Berechnung erfahren. Die Sprungrelationen sind doch physikalisch nur Approximationen von endlich ausgedehnten Bereichen  räumlicher Wirbeldichte. Wie wollen sie das mit  dem Ansatz v = -grad phi angehen?

     Zusammenfassend möchte ich sagen: Nachdem ich lange über die Frage eines physikalisch motivierten Zugangs zur Lösung von Umströmungsproblemen  in  der Aerodynamik nachgedacht habe, bin ich zu dem Ergebnis gekommen, dass nur die Diskussion der Näherungen der Wirbeltransportgleichung wirklich zum Ziel führt. Sie liefert auf jeder Stufe der Approximation die zugehörige Differentialgleichung und man erhält sowohl Druck wie Schubspannung auf der Oberfläche. Damit ist die Wirbeldichte im inkompressiblen Fall und das zugehörige Vektorpotential die Alles beherrschende Größe. Dem skalaren Potential im Fundamentalsatz der Vektoranalysis ist auf natürliche Weise vorbehalten, den Einfluss der Kompressibilität zur Lösung beizusteuern. Tatsächlich funktioniert dies hervorragend, wie ich in einem Forschungsbericht**) nachgewiesen habe. Dies ist theoretisch ebenfalls  äußerst befriedigend! Mit steigender Machzahl kommen Terme zur Wirbeltransportgleichung hinzu, die aus der Kompressibilität stammen. Dann gehen die Vorteile gegenüber den Lösungsverfahren der differentiellen Darstellung der Erhaltungssätze verloren. Dem stimme ich vorbehaltlos zu! Den größten Vorteil sehe ich in meinem Konzept darin, den schwer überschaubaren Einfluss der Grenzschicht und die Überlegungen Ludwig Prandtls dazu physikalisch "unter einen Hut" zu bringen.

Im Übrigen gibt es einige parallele Arbeiten zu diesem Ansatz, die weit in die Geschichte der Theoretischen Aerodynamik zurück reichen, und es sollte nicht der Eindruck entstehen, dass der von mir dargestellte Zugang eine völlig neue Idee ist - bis auf die wirklich neue Idee der Verknüpfung mit den PIV-Ergebnissen.

*) Die flächenhafte Wirbeldichte induziert ein Geschwindigkeitsfeld, das a) die Umströmung der Tragfläche erzwingt und b) die großräumige Luftströmung der Randwirbel im Nachlauf bewirkt. Das Ampèresche Theorem besagt nun, dass dieses Geschwindigkeitsfeld statt durch das Vektorpotential der flächenhaften Wirbeldichte formal ebenso durch den Gradienten des skalaren Potentials einer entsprechenden Dipolschicht dargestellt ("induziert") werden kann. Wenn ein solches - sehr spezielles - skalares Potential (das nur im physikalisch zu begründenden Grenzfall der infinitesimal dünnen Grenzschicht existiert!) gefunden ist, kann man damit eine Bernoullische Gleichung für instationäre Drücke herleiten. Zum Impulssatz kann nämlich nur für solche Geschwindigkeitsfelder ein erstes Integral gefunden werden, die sich als Gradient eines skalaren Potentials darstellen lassen.

Die klassischen Lösungen in der Aerodynamik gründen sich einerseits auf einen speziellen Grenzfall von Umströmungen, dessen zugehörige Druckkräfte andererseits durch  einen formalen mathematischen Kunstgriff über eine instationäre Bernoullische Gleichung beschafft werden können . 


**) W. Send, Zur Lösung des räumlichen Interferenzproblems in  der Instationären Aerodynamik, DLR FB 95-42, Hrsg. Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt e.V. (DLR), Köln 1995 (ISSN 0939-2963). 


Später hinzugefügt.

Da diese Seite unverändert erstaunlich oft aufgerufen wird, sei ein Hinweis auf eine spätere Arbeit gestattet, in der der approximative Charakter der "exakten" potentialtheoretischen Lösungen auch quantitativ belegt wird (Send DGLR2008, PDF 3.3 MB). Auf den Seiten 6 und 7 der Arbeit wird grafisch dargestellt, dass selbst die klassische Lösung für die Umströmung des Kreiszylinders auf der Basis der Funktionentheorie keineswegs die Erhaltungssätze erfüllt. Vielmehr erhält man nach dem Einsetzen in die Gleichung für die Massenerhaltung eine zum Quadrat der Machzahl proportionale Fehlerfunktion. Deren analytische Darstellung findet sich in dem voranstehend erwähnten DLR FB. Man kann sie sich aber auch leicht selbst herleiten, indem man das analytisch bekannte Geschwindigkeitsfeld des Kreiszylinders in die Gleichung (8) der DGLR2008 Arbeit einsetzt. Das Ergebnis ist grafisch dargestellt in Bild 10. Die Gestalt dieser Fehlerfunktion findet sich gestaltsmäßig wieder, wenn man die Quelldichte oder Divergenz des Geschwindigkeitfeldes um ein gewöhnliches NACA0012 Profil mit modernen numerischen Verfahren berechnet (Bild 9 mit Eulergleichung, Bild 11 mit Navier-Stokes-Gleichung berechnet).  

Zum formelmäßigen Zusammenhang zwischen Dipolschicht und flächenhafter Wirbeldichte über das Ampèresche Theorem sei auf die Folien eines Vortrags Auftrieb und Wirbeldichte beim Fliegen (PDF 3.2 MB) 2006 im Institut für Didaktik der Physik und Mathematik der Universität Hannover hingewiesen (S. 12 und Folgeseiten).    

Wolfgang Send, November 2010.