Antwort zur Frage 1


Frage 1. In der Wochenzeitschrift "Die Zeit" erschien (Ausgabe 21/2001) ein Artikel zur Aerodynamik unter dem Titel "Hier irrt die Schulweisheit". Dort wurde der Auftrieb mit einem sogenannten Coanda-Effekt begründet. Was ist das? Kennen Sie den Artikel?  Wenn ja - Was halten Sie von diesem Artikel? Werden hier die alten  Fehler nicht erneut wiederholt?

Den Artikel aus der Zeit finden Sie sogar im Internet als Volltext.*) Das zugehörige Bild in dem Artikel ist ganz sicher falsch. Eben so sicher ist, dass das Bild nicht von den beiden Autoren David Anderson und Scott Eberhardt stammt. Das hat eine Grafikabteilung selbst "verbrochen". Eine Kurzfassung des zitierten Buchs Understanding Flight der beiden Kollegen können Sie ebenfalls aus dem Internet bekommen: A Physical Description of Flight**). Aus diesem Artikel stammt das nebenstehende Bild. Die Unterschrift zu dem oberen Bild lautet: Fig. 2 Common depiction of airflow over a wing. This wing has no lift.Unter dem unteren Bild steht: Fig. 3 True airflow over a wing with lift, showing upwash and downwash.

Was ich nicht verstehe: Warum bemühen sich nicht wenigstens Aerodynamiker, die ein ganzes Buch zum Verständnis des Fliegens schreiben, um mehr Genauigkeit und liefern gerechnete statt gezeichnete Kurven des Strömungsfeldes. Es ist doch beileibe nicht meine eigene Erfindung, dass ein 2D Profil mit der sogenannten Abflussbedingung nach Kutta und Jukowsky (glatter Abfluss der Partikel an der Hinterkante) Auftrieb hat, im Grenzfall des idealen Fluids aber keinen Widerstand (siehe meine Erklärungen zu Prandtls Konzept der infinitesimal dünnen Grenzschicht). Die Erläuterung der beiden Autoren zu ihrer Figur 2 macht mich sprachlos. Hätten die Autoren ihren Fall einmal nachgerechnet, dann wäre ihnen aufgefallen, dass ihre Zeichnungen nicht einen einzigen Schritt zur Aufklärung beitragen.

Zum Coanda-Effekt: Ich schätze, dass Sie in 9 von 10 Büchern  zur Aerodynamik diesen Effekt, benannt nach einem Strömungsmechaniker (Zeitgenosse von Ludwig Prandtl), nicht erwähnt finden. Die Haftbedingung des zähen Fluids reicht nach meiner Ansicht völlig aus, um Auftrieb und Widerstand zu erklären. Ich kenne diesen Begriff mehr als Effekt zur Strahlbeeinflussung in speziellen Fällen. Die begrenzte Haftfähigkeit der strömenden Luft und ihre Neigung zur Ablösung von der Oberfläche sind natürlich die entscheidenden Punkte, um die sich jede Profilgebung der Tragflächen dreht. Darum geht es seit Beginn der Luftfahrt. Siehe dazu auch meine Grafik zum Auftrieb einer Tragfläche.

*) Der Artikel ist auf den Internetseiten der Zeit nicht mehr verfügbar.  Die Referenz ist eine Kopie des Artikels.
**) Link existiert nicht mehr.

Noch ein wertender Zusatz: Die beiden Autoren versuchen in ihrem Artikel, stets das ganze Flugzeug zu betrachten. Das ist redlich und praktisch, aber sie verstricken sich in ihren fehlenden Definitionen. Eine Kraft, also hier der Auftrieb, die definitionsgemäß senkrecht auf der Bewegung des Flugzeugs steht, verlangt nun einmal keine Leistung*). Dass ihr Auftrieb Leistung verbraucht und sie dies mehrfach hervorheben, ist eine unverzeihliche didaktische Fehlkonzeption ihres Artikels. Die Autoren verwechseln die Druckkraft  Fp (auf S. 54 meines Artikels) mit deren beiden Komponenten Auftrieb und (Druck-) Widerstand.

Ich halte es auch für unangebracht den Lesern und Leserinnen gegenüber, zwischen Erklärungen für Theorie und Praxis einen prinzipiellen Unterschied zu machen. So haben die Autoren irgendwie Recht, dass mehr Gewicht eines Flugzeugs mehr Auftrieb und dieser folglich mehr Leistung verlangt ( aber doch nicht der Auftrieb selbst!!). Warum genau: Bei mehr Auftrieb werden die Randwirbel an den Flügelspitzen stärker (siehe Bild 8 meines Artikels); bei gleicher Spannweite  ist deren Zirkulation näherungsweise proportional zum Auftrieb. Diese Randwirbel erzeugen eine Druckverteilung auf dem Flügel, die im Fall endlicher Spannweite (der 3D Fall) stets auch eine Komponente in Bahnrichtung hat (dieser Aspekt ist in meinem Artikel nicht mehr weiter aufgegriffen worden). Dieser Effekt wird zu den Flügelspitzen hin, wo die Wirbel abgehen, immer ausgeprägter ("Randabfall" des Auftriebs). Dieser Anteil des Drucks am Widerstand (auch - von den Wirbeln - induzierter Widerstand genannt im Gegensatz zum Reibungswiderstand der Oberfläche) wird größer bei mehr Auftrieb. Da er in Strömungsrichtung zeigt, wird zur Überwindung zusätzliche Leistung benötigt. Aber der Beitrag der Randwirbel zum Widerstand bleibt gleich, wenn ich die Tragflächen in Spannweite länger mache! Dann wird durch die größere Flügelfläche nur der Auftrieb größer (oder bei gleicher Last kann ich den induzierten Widerstand durch größere Spannweite verringern).

Also auch vom Prinzip her gilt keineswegs: Mehr Auftrieb verlangt mehr Leistung. Deswegen haben zum Beispiel extrem optimierte Segelflugzeuge eine so große Spannweite. Das Verhältnis von Auftrieb zu Widerstand, die sogenannte Gleitzahl, wird mit wachsender Spannweite immer besser.  Ein großes Verkehrsflugzeug ist ein Kompromiss zwischen  Spannweite und Steifigkeit der Tragfläche, weil große Spannweiten zum Beispiel die maximalen Fluggeschwindigkeiten herabsetzen (Stichwort "Aeroelastische Stabilität"). Ein modernes Verkehrsflugzeug hat eine Gleitzahl von etwa 20, moderne Segelflugzeuge haben Werte um 50 und in Einzelfällen weit mehr bis 60 (Nimbus 4,1990).


Ich finde den Beitrag der beiden  Kollegen über weite Strecken unscharf in den Formulierungen und dadurch letztlich mehr verwirrend als hilfreich.

*) Es handelt sich hier um international gebräuchliche Konventionen in der Luftfahrt. Siehe dazu z.B: D.Thomas, J.Freytag, Flugtechnische Tabellen und Formeln, Fürstenfeldbruck 1996, (ISBN 3-931776-01-8); R.S. Shevell, Fundamentals of Flight, Prentice-Hall 1989 (ISBN 0-13-339060-8).